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Manche Häuser sind nur ein Zuhause, andere eine Lebensaufgabe: Die Architekten Nicola Petereit und Jörg Haufe bewohnen mit ihren Kindern ein in Eigenregie saniertes, Jahrhunderte altes Handwerkerhaus in der Lübecker Altstadt – mit Zimmern klein wie in einer Puppenstube und nicht einem einzigen rechten Winkel
Drei Zimmer, Küche, Diele, Bad kann jeder. Wer hingegen unkonventionelles Wohnen mag, sollte einen Ausflug in die Lübecker Altstadt wagen, zum Beispiel in die Fleischhauerstraße. Früher war sie Heimat der Metzger, heute ist die Straße bekannt für ihre vielen denkmalgeschützten Häuser. Jedes davon hat eine eigene Geschichte und Persönlichkeit. So auch das Zuhause der Familie Petereit Haufe, die wir besuchen.
Als wir den Klingelknopf an Nummer 100/102 drücken, öffnet uns eine gut gelaunte Nicola Petereit die Tür. Im Hintergrund warten Jörg Haufe und Tochter Irma auf ihren Einsatz. Heute wird nämlich das jüngste von insgesamt vier Kindern die Hausführung übernehmen. Bevor es aber der 9-Jährigen hinterhergeht, gibt es erst einmal einen Exkurs zur Baustruktur der Altstadt. „Der klassische Aufbau der Dielenhäuser besteht aus einem Vorderhaus, einem halb versetzen Seitenflügel und häufig aus Hofgebäuden“, erklärt Nicola Petereit. Während vorne Kaufmänner oder Handwerker lebten und darüber im Dielenboden Waren lagerten, schliefen im Seitenflügel die Gesellen und Mägde. Im Zuge des Bevölkerungswachstums zur Hansezeit und später zur Industrialisierung wurde der Wohnraum auf dem von Trave und Wakenitz umflossenen Altstadthügel verdichtet. In die Vorderhäuser mauerte man Durchgänge, sodass die Hinterhöfe zugänglich und bebaubar wurden. Diese Gänge waren so eng wie möglich, um kostbaren Platz zu sparen, und so breit wie nötig, damit wenigstens ein Sarg hindurchpasste. So entstanden die „Gänge und Höfe“, heute idyllische Stadtoasen, die so einzigartig sind, dass die UNESCO den mittelalterlichen Stadtkern 1987 zum Weltkulturerbe ernannte. Rund neunzig von ihnen sind bis heute erhalten und können größtenteils frei erkundet werden.
Auch das Handwerkerhaus, in dem das Paar lebt, besitzt einen solchen Gang, der heute als Fahrradgarage dient. Das Haus war ursprünglich ein Ensemble aus zwei Gebäuden (100 + 102), die im Zuge der Sanierung zusammengelegt wurden. Heraus kam dabei ein Grundriss von 200 Quadratmetern, mit zwei Eingängen und Treppenhäusern, einem Hof, unzähligen Stufen, 13 Ebenen und 17 mehr oder minder großen Zimmern, der Besucher zunächst etwas orientierungslos zurücklässt. Während uns Irma von vorne nach hinten durch das Haus führt, entdecken wir überall kleine Nischen, Schränke und viele historische Details aus verschiedenen Epochen. So wie die Holzkassetten und Stuckdecken in den Zimmern der beiden Töchter, die früher der Hausherr bewohnte. „Hier kann man gut erkennen, dass der einst hier wohnhafte Handwerker einen durchaus repräsentativen Anspruch hatte“, erklärt Jörg Haufe. „Zwar war er an die Zunft gebunden und konnte daher nicht so viel verdienen, wie er gekonnt hätte; das hielt ihn aber nicht davon ab, dem Kaufmann nachzueifern“, erklärt er.
Kreativität ist ein Talent, das Petereit Haufes mit ihren Vorgängern teilen, wie die individuellen Problemlösungen im Haus verraten. So wurde in der Küche neben der Hängematte, die quer durch den Raum gespannt ist, ein unübersehbares rechteckiges Akustikpaneel an der Wand aufgehängt, um den Schall im Zimmer zu dämmen. Es besteht aus einem absorbierenden Schaumstoff für die Akustik und ist mit rotem Samt bezogen. In den Zimmern im ersten Stock wurden die originalen Kastenfenster belassen, an der Innenseite wurde jeweils ein zweites Fenster – mit einem magnetischen Schließmechanismus wie bei einem Kühlschrank – installiert. Sie dienen unter anderem als Wärmerückhalt. Als das Architekten-Paar 1996 den Zuschlag für die Fleischhauerstraße 100/102 in einer Zwangsversteigerung erhielt, hatte es sein zukünftiges Zuhause noch nicht einmal von innen besichtigt. „War es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick?“, mutmaßen wir bei so einem Wahnsinnskauf. „Nein, damit hatte es nichts zu tun, schon eher mit Abenteuerlust“, sagt Nicola Petereit. Beide hatten damals gerade ihr Studium in Aachen abgeschlossen und wollten das Haus zum Privat-Projekt machen. Zudem schien das Angebot für 119.000 DM ziemlich verlockend. Obgleich ein nicht unerheblicher Muskelhypothek und viel Geduld hinzukommen sollten.
Denn erst 2002, sechs Jahre nach dem Kauf, konnten Petereit Haufes schließlich einziehen. „Darunter gab es aber ein Jahr, in dem wir das Gebäude nicht mehr betreten haben, weil wir dachten, dass uns alles über den Kopf wächst“, erzählt die Architektin rückblickend. Denn die „alte Dame“, deren früheste Teile aus dem 16. Jahrhundert stammen, lehrte beide schnell, wer beim Umbau den Takt angibt. „Als Architektin wundere ich mich oft, dass diese Häuser noch stehen“, sagt Nicola Petereit lachend und zeigt uns den morschen Stumpf eines Dachbalkens im Bücherzimmer, der geschickt und stylisch von einem Stahlträger gestützt wird. „Sie tun es wohl nur noch aus Gewohnheit.“ Der „Organismus“ der Gemäuer ist empfindlich: Selbst kleine Veränderungen in diesem bewährten System könnten ungeahnte Folgen haben – etwa einen Boden, der absackt oder eine sich neigende Wand, die den Statiker in blanke Panik versetzt. Nicht immer schön, „aber eine sehr gute Schule“, wie die Architektin sagt. Die enge Zusammenarbeit mit dem Lübecker Denkmalschutz habe sie vor allem Respekt gelehrt. „Man muss sich immer vor Augen halten, wie alt so ein Gebäude ist und wie kurz unsere Zeit darin.“
Nach all den Lektionen, die die beiden in ihrem Haus lernen durften und mussten, haben sie noch nicht genug. Schon im Frühjahr geht es für sie ein Stück die Fleischhauerstraße hoch. Dort werden sie, auch weil bereits zwei Kinder flügge geworden sind, ein etwas kleineres Handwerkerhaus beziehen. Dieses Mal ein verhältnismäßig junges Exemplar von 1880 im Hinterhaus eines Malerbetriebs. „Wir sind zwar traurig über diesen Schritt“, gibt Nicola Petereit zu. Zwei Jahre habe sie gebraucht, um sich mit dem Gedanken anzufreunden, aber letztlich doch die Vorteile gesehen. Zum einen ist das Privatsphäre und zum anderen ein großer Hof mit Sonne. Aufgrund der engen Haus-an-Haus-Bebauung ist beides in der Altstadt nämlich Mangelware. Während sich das Paar früher seine Prise Licht auf der Terrasse des Café Kandinsky holte, will es das zukünftig im eigenen Garten tun.
An einer Sache aber ist nicht zu rütteln: Aus ihrer Fleischhauerstraße wollen sie nie mehr weg. Denn wer hier lebt, davon sind sie überzeugt, kaufe eben nicht nur ein Haus, sondern Gemeinschaft. Den Quartierscharakter, den sich Stadtentwickler heute überall wieder wünschen, die kurzen fußläufigen Strecken und das nahe Zusammenleben, haben sich die Menschen des Mittelalters und später der Industrialisierung hier von ganz allein erbaut. Denn nur zusammen war man so gegen Angreifer stark. Heute sind die Bedrohungen von außen zwar im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte, die besondere Art des Wohnens bleibt aber aktuell. Fast fühlt es sich hier an wie in einer großen WG. Und die will das Architektenpaar auch in Zukunft keinesfalls missen.
Das Grundstück des Hauses Nr. 100/102 hat eine lange und durchaus spannende Geschichte: Im Jahr 1381 gehörte es dem Knochenhauer Ditmar Grundys. Der Beruf des Fleischers war angesehen, brachte ein gutes Einkommen, doch gewährte er kein Mitspracherecht in der Stadtpolitik. 1384 lehnten sich die Knochenhauer, darunter auch Grundys, gegen ihren niederen gesellschaftlichen Status auf. Viele der Aufständigen wurden hingerichtet. Ditmar Grundys konnte fliehen, verlor aber sein Grundstück und Vermögen.